Albidyll lehrt einen vieles über Natur und Geschichte

Abschalten vom Alltag lernen: Ein Besuch bei Claudia Bärbel Kirsamer und Volker Eggebrecht am Ortsrand von Trailfingen.

Mit Ziegenbock Max über Blumenwiesen wandern, aus echtem Bienenwachs Schreibtafeln herstellen oder bei Zwetschgensaft eine Ziegenrote grillen: Wer erstmal in das Albidyll eintaucht, vergisst die Zeit.


Natur einmal anders erleben: Besucherin Iris füttert die Ziegen. Fotos: Kristina Wiechert

 

KRISTINA WIECHERT

Trailfingen

"Man kann richtig entspannen und sich selbst entdecken", bemerkt Besucherin Iris und setzt weiterhin bedächtig den Bleistift aufs Papier für eine kalligraphische Übung, bei der es um Andruck, graphische Anordnung und eigene Konzentration geht. "Der Effekt ist, man denkt nur an das, was man grade tut."

Abschalten vom Alltag fällt Erwachsenen oft schwer, denn: "Viele können nicht einfach nur dasitzen und nix machen, um zu entspannen", diese Beobachtung hat die Grafikdesignerin Claudia Bärbel Kirsamer schon öfter gemacht. Beim künstlerischen Tun in freier Natur ist das anders. Iris bestätigt: "Es macht was mit einem - ich hätte nicht gedacht, dass Kalligraphie therapeutisch wirken kann."

Ob Pinsel, Feder oder Wäscheklammer, jeder kann verschiedene Schreib- und Malutensilien testen oder Schriftgeschichte lernen: mit eigens gefertigten Monogrammen in der Schrift aus der Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas, Herzog Ulrichs oder der Römer. Einen Ausflug in ihre Kindheit können Seniorengruppen unternehmen, die sich in der Sütterlinschrift mit echten Griffeln auf der Schiefertafel üben.


Raus aus dem Alltag: Claudia Bärbel Kirsamer (rechts) vermittelt ihren Gästen, wie früher geschrieben wurde.

Familiär und natürlich ist das Ambiente rund um Haus und Atelierscheune am Ortsausgang von Trailfingen, jeden Gast erwartet ein lockerer Empfang, gleich ob er zum Freizeitvergnügen oder zu therapeutischen Zwecken herkommt. "Ich bin ja keine ausgebildete Psychologin, und ich stelle nicht so viele Fragen, das schätzen die Leute und fühlen sich wohl", weiß Kirsamer. Erfahrung mit alten und behinderten Menschen hat sie dennoch jede Menge gesammelt. Als ihre Großmutter zum Pflegefall wurde, ersparte ihr die Enkelin das Heim und versorgte die Oma zu Hause, gemeinsam mit ihrem Ehemann Volker Eggebrecht. Der Heilerziehungspfleger arbeitet mit behinderten Menschen aus der Bruderhaus-Diakonie: Jeden Montag bekommt er Besuch aus Reutlingen und findet Unterstützung bei allem, was auf dem Hof anfällt: Baumschnitt im Winter, Füttern, Stallausmisten, bei der Geburt der kleinen Zicklein sind alle dabei - und Ziegenwürstchen braten gehört auch dazu, denn die Ziegen sind keine Milchziegen, sondern für die Fleischgewinnung da.

Stets von ihrer Fangemeinde sind die munteren Ziegen umringt: Ein Mädchen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist bereits Stammgast auf dem Hof, sie hält den Ziegen die Treue und hilft beim Versorgen. Spaziergänger legen eine Rast ein, sitzen unterm Apfelbaum und beobachten in Muse die zehnköpfige Ziegentruppe. Ihr Anführer, der Ziegenbock Max, ist auch für einen 90-minütigen Spaziergang über die Albwiesen bereit. Im Atelier CBK wird erlebbar, wie sich Schrift und Natur harmonisch zu einer Gesamterfahrung fügen. Ein kleiner Spaziergang führt zu den (römischen oder alemannischen) Wagenspuren in der Trailfinger Schlucht, danach gehts in der Scheune weiter, dort gießen die Kinder Wachstäfelchen mit echtem Bienenwachs wie die alten Römer.

Erstaunt ist Kirsamer dann, wenn sie ihre kleinen Besucher auffordert, sich irgendwo einen Gegenstand zum Ritzen fürs Täfelchen zu suchen. "Manche Kinder kommen nicht mal auf die Idee, sich einen kleinen starken Ast zu suchen", wundert sie sich über deren Ferne zur Natur. "Viele wissen auch nicht, wie Honigwaben aussehen oder dass man überhaupt Bienen zum Blütenbefruchten braucht, damit da mal ein Apfel wächst." "Kinder kennen heute mehr Handyklingeltöne als Vogelstimmen, viele Erwachsene mehr Automarken als Wildkräuter", hat die Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg (BANU) festgestellt. Trotz der vielen Informationsmöglichkeiten in unserer Mediengesellschaft verliert sich das jahrhundertealte Wissen über Natur, Landschaft, deren Kultur, aber auch über Ackerbau, Landwirtschaft und Ernährung.

Mit dem Natur-Erlebnis-Wochenende setzen die BANU-Akademien ein Zeichen "gegen die Wissenserosion in Sachen Natur". Überall in Deutschland gab es am Wochenende Gelegenheit, in die Natur einzutauchen und unter Anleitung viele kleine Kostbarkeiten zu entdecken, zu erleben und auch kennen zu lernen. Dabei geht es nicht nur um Tiere, Pflanzen und die vielfältige Kulturlandschaft, sondern auch um Zusammenhänge in der Natur, die es zu entdecken gilt.

aus: Südwestpresse Ulm / Reutlinger Nachrichten / Metzinger Volksblatt /
Ermstalbote / Alb-Bote 19.5.2008

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