Gäbe es einen Werkstoff, der den Menschen keinen Wi­derstand entgegen­setzte, gäbe es einen Werkstoff, der sich for­men ließe, wie sich eine Wolke durch den Wind formen lässt, dann würde die im Menschen schlum­mernde Gestaltungskraft sich auch nicht entfalten kön­nen. Es würde ein Schlaraffenlandzustand sein, in dem der Mensch verkümmern müsste. Und dennoch sind manche Zweige der Technik hemmungslos der Versu­chung erlegen, solche Werkstoffe zu machen. Da ver­sucht man, das Eigenleben der naturge­wachsenen Stoffe über die notwendige Aufbereitung hinaus abzutöten, oder man verleiht pulverisierten Abfällen Festigkeit durch hohen Druck.

Hugo Kükelhaus 1934

Rundbrief April 2001

Haut den Stein - vom Stein zur Haut - und weiter

Einleitung

Als Kind kritzeln wir mit allem auf alles was uns in die Finger kommt. Später lernen wir uns auf Papier aus dem Schreibwarenladen zu beschränken.

Als Kalligraf verabschieden wir uns dann wieder von diesem Papier und entdecken neue Welten.

Bevor wir uns diesen Welten widmen, frönen wir doch mal der alten Volksweisheit Blick zurück - bringt viel Glück (die nicht nur im Straßenverkehr beim Abbiegen zu beachten ist) und werfen einen Blick auf unsere Vorfahren:

Geschichtlicher Abriss

Und wieder müssen die Höhlen von Lascaux herhalten: in vorgeschichtlicher Zeit ahmte man dort bereits unsere Graffiti-Sprayer nach (oder ist es umgekehrt?): Zeichen auf Stein erregten die Gemüter der Mitmenschen.

In geschichtlicher Zeit wird weiter auf Stein symbolisiert - jetzt schon geschrieben - und/oder gemeisselt. Das Produkt auf jeden Fall sehen wir als in Stein gehauene Buchstaben an der Trajansäule in Rom - jetzt noch, nach 2000 Jahren. Keine zu Staub zerfallenen Blätter - oder entmagnetisierte Datenträger.

Neben Schreiben auf Stein gabs dann noch das Einritzen in Tontafeln.

Eine andere Technik entstammt dem Pflanzenreich: Gitterförmig vereinigte Pflanzenfasern. Papyrus ist hier das Stichwort. Das geht aber auch mit anderen Pflanzen.

Eine neue Erfingung war dann die Tierhaut als Beschreibmaterial. Wieder wie so oft war hier die Not der Erfinder: als die Ägypter, Monopolisten in Sachen Papyrus, eine Handelssperre erließen, wich Eumedes der II, seines Zeichens König von Pergamon, auf Tierhäute aus - mit Pergament als Beschreibstoff gab es also bereits vor Christi Geburt alle jetzt gängigen Beschreibstoffe in ihren Grundformen: Schrift auf Stein, Pflanze und Tierhaut (unser "Papier" ist dabei nichts anderes als in Form gebrachte Pflanzenfasern).

Nähe und Distanz

Wenn wir es ganz grob betrachten, können wir einen Weg erkennen: den Weg vom Schreiben auf Mineralien (Stein, Ton) zum Schreiben auf Pflanzen (Papyrus) zum Schreiben auf Lebewesen (Tierhaut).

Da wir uns gerne als im Mittelpunkt stehend betrachten, ist es auch ein emotionaler Weg: Stein, Pflanze, Tier; vom Entfernten zum Nahen.

Von der Trennung zur Vereinigung

Wie oben bezeichnet, ist diese Betrachtung grob. Es war immer alles da: bereits die Höhlenmaler von Lascaux brachen vermutlich Zweige ab um Zeichen zu setzen und ritzten Tierhäute, um mit diesem Zeichen das darin innewohnende Leben nach aussen treten zu lassen.

Und während in Ägypten auf Papyrus geschrieben wurde, wurde auch fleissig in Stein gehämmert. Das ging auc h weiter, als Pergament - Tierhäute, die bald nicht nur aus Pergamon stammten - genutzt wurden.

Es war also immer alles vorhanden: Zeichen auf organischem und anorganischem.

Rückschritt - von der Qualität zur Quantität

Bewusst wurde mit vorgesagtem der Blick auf eine Linie gelegt vom Stein zur Pflanze zur Haut - um diesen Weg wieder in Frage stellen und damit sensibilisieren zu können: unser bevorzugter Beschreibstoff ist das Papier - und das besteht aus Stoffen, die überwiegend aus Pflanzen extrahiert werden. Stoffe, die uns emotional näher sind als Mineralien - und ferner als Lebewesen.

Durchgesetzt hat sich das Papier, als Pergament teuer und schwer zu beschaffen war - und der Bedarf an Beschreibstoffen immer größer wurde. Quantität statt Qualität.

Papier - von der Quantität zur Qualität

Nun sind wir endlich beim Papier, unserem gewohntem Beschreibstoff. Aber Papier ist nicht Papier.

Die meisten Papiere werden als Massenware erzeugt und genutzt mit von vorneherein zeitlich begrenzter Lebensdauer. Für unsere Belange als Kalligrafen sind sie weniger geeignet.

Mehr interessieren uns Papiere, die würdig sind, unsere Formen aufzunehmen. Wir erfreuen uns an einem guten Essen auch nicht in der Abstellkammer, sondern suchen dazu ansprechende Räume auf.

Papier als Massenware wird erzeugt, indem durch chemische Prozesse alles lebendige aus den Pflanzenfasern herausgenommen wird. Die Fasern werden dann in einem rotierenden Verfahren zu Papier zusammengeklatscht. Diese Verfahren führt mit sich, dass sich alle Fasern in einer Linie wie Soldaten aufreihen. Das können wir leicht testen, indem wir verschiedene Papiere (Zeitungen, Zeitschriften, Druckerpapier) einmal quer und einmal längs reissen. Wir spüren, dass sich die Fasern in Längsrichtung leichter reissen lassen als in Querrichtung.

Die Fasern handgeschöpfter Papiere dagegen sind gitterförmig miteinander verbunden. Das bedingt schon der Schöpfvorgang, bei dem sich die Fasern kreuz und quer im Bottich befinden. Eine Reissprobe bestätigt diese Qualität - eine Schreibprobe ebenfalls.

Für unsere Kalligrafien sollen wir ruhig gute Papiere nehmen. Das Schreiben gelingt besser und die Arbeiten sind auf säurefreiem Papier beständiger als auf chemisch präpariertem.

Viele Papierhersteller bieten edle Serien für Aquarell, Zeichnung und Kalligrafie an. Welches Papier von welchem Hersteller einem am besten zusagt, ist meist Geschmacksfrage. Hier kann man ruhig mal nach Mustern fragen und diese zuhause in Ruhe bearbeiten.

Sonst noch was?

Angekommen beim Papier verlassen wir es auch schon wieder. Um uns die Formen, deren wir uns in der Kalligrafie bedienen, vertrauter zu machen, sollen wir sie ruhig auf anderen Materialien ausprobieren - grenzenlos frei - ich sitze im Cafe und schaue mich um. Worauf kann ich schreiben? Darf ich Sie einladen, jetzt an einem Experiment teilzunehmen? Wo sind Sie gerade? Schauen Sie sich um. Bitte, tun Sie es wirklich! Worauf können Sie schreiben?

Ich sitze im Cafe. Auf den Tisch kann ich schreiben, auf die Tasse, auf den Löffel, auf das Tischbein, auf den Boden,.auf das Fenster, auf den Fensterrahmen, auf den Fenstergriff, auf das Fahrrad vor dem Fenster, auf die Zeitung vor mir (da steht doch was drauf - na und?), auf den Vorhang, auf die Geldbörse, den Geldschein, die Geldmünze, den Arm der Bedienung - Mineralien, Pflanzen, Lebewesen, alles da.

Und bei Ihnen? Schauen Sie sich um.

Ich sitze jetzt in meinem Zimmer - und kalligrafiere in Gedanken auf den Bildschirm des PC's, auf die Blätter meiner Birkenfeige, auf das Wachs der Kerze - und auf die Wand.

Es stellt sich also wohl besser die Frage: worauf können wir nicht schreiben?

Übrigens: das ist eine ernstzunehmende Frage, die in diesem Aufsatz unbeantwortet bleibt.

Setzten Sie Ihre Überlegungen um. Probieren Sie aus, wie es sich anfühlt, gewohnte Formen auf ungewohnten Untergrund zu platzieren.

Katharina Pieper Kalligrafin und Vorsitzende von ars scribendi, sagte während einer Ausstellungseröffnung in Chemnitz: "erst als ich die Großbuchstaben der Antiqua in Stein meisselte, begriff ich sie".

What's new?

Stein, Papyrus, Pergament und wieder zurück zu den Pflanzenstoffen - war's das - oder gibt es noch was Neues?

Es gibt immer was Neues.

In der Physik ist es die Suche nach den kleinsten Teilchen. Ging man dabei früher vom Atom aus, lernte man, es bald aufzuspalten. Seit einigen Jahren diskutiert man nun darüber, ob die kleinsten Teilchen nun Teilchen oder Wellen sind - und behauptet, dass sie beides sind. Sowohl als auch. Je nach Aufbau des Versuches erkennt man sie als Teilchen oder als Welle.

In der Kalligrafie nutzen wir immer noch die Teilchen, auf die wir je nach Konsistenz und Zusammensetzung mit den verschiedensten Schreibgeräten arbeiten.

Auf Wellen, Lichtwellen, nichtstofflichen Erscheinungen lässt sich mit der Bandzugfeder nicht arbeiten. Konsumiert werden wohl: über Zwischenschritte erscheinen kalligrafisch gestaltete Formen im "Lichtspieltheater" - Kino, Fernseher, Computer.

Aber genausowenig wie ein Schweinebraten - oder besser ein Grünkernpflanzerl - uns als Lichterscheinung befriedigt, genausoviel braucht die Kalligrafie die ausführende Bewegung, um Gestalt anzunehmen.

Trotzdem: Kalligrafie als Lichterscheinung tut uns auch gut. Das Ansehen alleine schon setzt unser Inneres in Bewegung (Spiegelneuronen) - um wieviel mehr dann noch das Tun.

Ausleitung

Das Arbeiten auf verschiedenen Beschreibstoffen erfordert auch verschiedenen Materialien. Für eine Kuhhaut brauc he ich etwas anderes als einen Quelle-Kugelschreiber. Für das Beschreiben lebendiger Haut gibt es spezielle Körperfarben. Verschiedene Flüssigkeiten reagieren auf verschiedenen Papieren anders. Über manche Papiere fliegen Vogelfedern, an manchen spießen sie sich auf. Bandzugfeder, Kalligrafiefüller, Rohrfedern reagieren jeweils anderes. Holz freundet sich niemals mit Bandzugfeder an. Stein braucht Pinsel oder Meissel. Und so weiter.

Die Kalligrafie, das Gestalten wertvoller, intakter, reicher Formen, erfordert - und gebiert - wertvolle, intakte, reiche Materialien, die spannende Verbindungen eingehen.

Nichts kann uns so viel Wahrheit lehren wie die Kindlichkeit. Für den hochmutsvollen Verstand ist das eine bittere Lösung, und doch muss er lernen, das Reich des Kindes zu schützen, statt es zu bedrängen.

 Hugo Kühelhaus

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze