Rundbrief Juli 2001

Kalligrafie - Versuch einer Definition

 

Hätte ich gewusst, dass es so etwas wie islamische Kalligrafie gibt, hätte ich niemals zu malen begonne.

Pablo Picasso

 

 

Es gab eine Zeit, in der ich mit "Schriftkunst" antwortete, als ich gefragt wurde, was ich denn so mache. Zuerst hatte ich immer "Kalligrafie" gesagt - und dann regelmäßig die Antwort bekommen: "was ist denn das?" - worauf ich die Fragesteller dann ebenso regelmäßig mit dem Wort "Schriftkunst" zufriedenstellte.

Seit geraumer Zeit antworte ich auf die Frage, was ich denn so mache, wieder mit "Kalligrafie".

Anlass dafür waren die Worte von Dr. Werner Schrüfer anlässlich einer Ausstellungseröffnung, in denen er das "kallos" in Kalligrafie mit "wertvoll, echt, gut, zufrieden, glücklich" übersetzte.

Mir stellte sich die Frage, was denn nun "kallos" beim "graphein", beim "schreiben" sei: die teure Feder, die Eisengallustinte oder die Musik im Hintergrund.

Natürlich sind es die Formen, die Formen, die aus Urformen sich in verschiedenen Lebensäusserungen darstellen, "gestalten": in der Musik, im Tanz, in Graphemen, in gelungenen Spielzügen - geistig im Schach, körperlich im Fussball - , in Bäumen, Flussläufen und in Körperformen von Lebewesen.

In der Kalligrafie sind es die Formen, welche, geprägt, gereinigt, transformiert durch die jeweiligen "Zeitgeiste" (Romanik, Gotik, Renaissance...) in die Alphabete Eingang gefunden haben.

So ist es für mich auch legitim, mich auf die Suche nach den Formen zu begeben, wie sie sich ohne Buchstaben-inhalt darstellen, um sie dann in den einzelnen Alphabeten stimmiger einsetzen zu können - oder sie losgelöst von Inhalten zu präsentieren (Ornamente, Arabesken und abstrakte Kalligrafie).

Das ist meine Sichtweise.

Im folgenden sind zwei weitere Sichtweisen dargestellt:

 

•  Kunstkulturelle Sichtweise der Kalligrafie

•  Kulturpolitische Sichtweise der Kalligrafie

sowie eine

•  allgemeine Betrachtung zum Thema "Kunst"

 

1. Kunstkulturelle Sichtweise der Kalligrafie

1.1 Asiatische Kalligrafie

In der Asiatischen Kalligrafie wird das Erlernen und das Ausüben der Kalligrafie analog der Entwicklung der Persönlichkeit betrachtet: "...eine Vorführung oder eine Diskussion um Künste wie Kendo (der Weg des Schwertes) und Karatedo (der Weg der offenen Hand) ist Unvollständig ohne shodo (der Weg des Pinsels)"

1.2 Arabische Kalligrafie

Bedingt durch das Bilderverbot im Islam errang die Kalligrafie eine Vormachtstellung unter den bildenden Künsten. Ausdruck und Form sprechen eine Sprache, die einer "Bildsprache" ebenbürtig ist.

1.3 Europäische Kalligrafie

Albert Kapr, Kalligraf aus Leipzig, drückt die Einstellung Europas zur Kalligrafie treffend aus:
„Deshalb kann man unter Schriftkunst solche Inschriften, Buchschriften und Schriftanwendungen zusammenfassen, die mit manueller Meisterschaft gemacht sind und den Text nicht nur lesbar machen, sondern emotionelle Eindrücke vermitteln.“

 

2. Kulturpolitische Sichtweise der Kalligrafie

2.1 Kalligrafie als Teil der "Bildenden Kunst"

Der Begriff "Bildende Kunst" wird in Unterscheidung zu Literatur, Musik und Darstellender Kunst verwendet. Zur "Darstellenden Kunst" zählen Schauspiel, Tanzkunst, Pantomimik. Früher zählte noch die Malerei und die Plastik zur "Darstellenden Kunst".

Zur "Bildenden Kunst" zählen wir die Architektur, die Bildhauerkunst, die Malerei, die Grafik (zweckfreie künstlerische Graphik sowie Gebrauchsgrafik) und das Kunsthandwerk.

Kalligrafie ist dabei eine besondere Ausprägung der Grafik (historisch gewachsen ist es umgekehrt: am Anfang war die Kalli-grafie, dann reduzierte sie sich zur Graphik).

 

Kunst

Literatur

Musik

darstellende Kunst

  • Schauspiel
  • Tanzkunst
  • Pantomimik
  • (früher noch Malerei und Plastik)

bildende Kunst

  • Architektur
  • Bildhauerkunst
  • Malerei
  • Kalligraphie
  • Graphik
  • Kunsthandwerk

 

2.2 Kunst und Kunsthandwerk

Das Nachfertigen von Arbeiten nach gängigen Alphabeten ist dem Kunsthandwerk zuzurechnen. Sind dagegen in den Arbeiten "eigenschöpferische" Anteile sowie eine "gewissen Gestaltungshöhe" erkennbar, kann man von Kunst reden.

Wo ist diese Unterscheidung wichtig?

Sofern man die Kalligrafie als Beruf ausübt, ermöglicht einem die Darstellung der eigenen Kalligrafie als "Kunst" eher den Zugang zu öffentlichen Fördermitteln (Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse, Zugang zu Galerien, Aufnahme in Förderprogramme)

 

2.3 Ausbildung zum Kalligrafen

Die "Ausbildung" zum Kalligrafen ist der Eigeninitiative überlassen. An Schulen und Universitäten wird in den Fächern "Kunst und Gestaltung" immer wieder das Thema "Schrift" berührt. Oft in einer typografischen Darstellung, manchmal auch in einer kalligrafischen Sichtweise. Je nachdem, wie der Lehrer, Dozent, Professor zur Schrift und zur Kalligrafie steht.

Oft ist es demzufolge notwendig, sich unter der Kalligrafenschar eigene Lehrer zu suchen, mittels denen man sich im Rahmen von Kursen und/oder Einzelunterricht in der Kalligrafie weiterentwickeln kann.

 

3. Von der Kunst

„Kunst“ ist ein Begriff, der um einiges schwieriger als zum Beispiel „Brot“, „Wasser“ oder „Fleisch“ zu definieren ist.

Ehrliche Bestrebungen und pure Geschäftemacherei bedienen sich dieses Begriffes.

„Kunst“ kommt von „Können“, sagen einige. Kunst ist also Handwerk. 99% Konstruktion und 1% Inspiration - und wohl auch einige Liter Transpiration. Aber eben dieses eine Prozent Inspiration macht aus Handwerk Kunst.

„Kunst“ kommt von „Kenntnis“, sagen anderen; von der Kenntnis des Lebens, der Natur, des Wesens der Dinge.

Der Künstler versucht dabei mit seinen Werken uns Einblick zu geben in die Welt zusätzlich der von uns wahrgenommenen Realität. Die uns eigene Reduktion der Wahrnehmung der Welt scheint für das Überleben der Spezies Mensch wichtig, behauptet der Biologe. Sie läßt uns aber trotzdem erahnen, daß die Schöpfung größer ist, als sie uns Augen, Mund und Ohr vordergründig erkennen lassen.

Dieses Erahnen eines Größeren ermöglicht Erfahrungen der Transzendenz. In der künstlerischen Arbeit kann der Künstler die Schöpfung dargestellt haben, wie sie sich in Sternstunden dem Menschen offenbart.

Cezanne schreibt dazu:

„Der Künstler ist nur ein Aufnahmeorgan, ein Registrierapparat für Sinnesempfindungen, aber, weiß Gott, ein guter, empfindlicher, komplizierter, besonders im Vergleich zu den anderen Menschen. Aber wenn er dazwischen kommt, wenn er es wagt, der Erbärmliche, sich willentlich einzumischen in den Übersetzungsvorgang, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig.“

Ein Ideal, das wohl ab und an erreicht wird.

Was ist aber mit den Werken, in denen die Einmischung des Künstlers in den Übersetzungsvorgang erkennbar ist?

Ein Bild, eine Skulptur, ein Theaterstück, in dem der Kampf des Künstlers mitschwingt, das Durchdrungen ist von verlorenen Schlachten, von Nöten und Lebensängsten ist trotzdem wertvoll. Beim Betrachten dieser Werke spüren wir, daß es unter uns Menschen „menschelt“. Wir stehen nicht allein mit unseren Sorgen und Nöten. Vielleicht können wir sogar durch eine differenzierte Darstellung menschlicher Kümmernisse außerhalb von uns Ansätze erkennen, das eigene Leben zu einem guten Gelingen voranzutreiben.

So ist Kunst ein Weg der Lebensbejahung. Einmal kann man durch sie, sowohl als Betrachter als auch als Schaffender, an die Grenze von Menschlichem zu Göttlichem kommen und vielleicht sogar Transzendenz erleben; andererseits hilft uns Kunst, unser Menschsein besser zu begreifen und ertragen.

Jeder möchte die Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen? Warum liebt man die Nacht, die Blumen, alles um uns her, ohne es durchaus verstehen zu wollen? Aber wenn es um ein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es verstehen.

Pablo Picasso

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze