Aufsätze zur Kallgrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze

Rundbrief November 2001

Kalligrafie und Typografie

Kalligrafie und Typografie - zwei Begriffe, die mit Schrift zu tun haben.

Mit Kalligrafie wird "handgeschriebenes" bezeichnet, mit Typografie "maschinengeschriebenes".

Die "Typografie" stellt "Typen" her - Verallgemeinerungen.

Ein bestimmter Typus, der stellvertretend für alle anderen Typen steht.

So ist der "Typus" des Schlagersängers ein anderer "Typus" als der "Typus" des Rocksängers.

Ebenso ist der Typus des "e" ein anderer als der des "c".

Es wird das gleiche, das gemeinsame herausgearbeitet. Das jeweils verschiedene wird vernachlässigt.

In der Typografie geht es darum, alle "e's" gleich aussehen zu lassen. Das ist der Kern der Typografie. Das Fleisch um den Kern ist die Gestaltung: die Typografie ist bestrebt, das "e" ansprechend zu gestalten und in einem grafischen Verhältnis zu den anderen Buchstaben des Alphabetes erscheinen zu lassen. So weisen die verschiedenen typografischen Alphabete verschiednen "e's" auf, die zu den anderen Buchstaben passen:

e aioumda

e aioumda

e aioumda

e aioumda

e aioumda

e aioumda

Das Entscheidende ist: alle "e's" eins Alphabetes sind gleich.

Vordergründig gleich.

Mit unseren Unterscheidungswerkzeugen: Sehsinn, Hörsinn, Tastsinn können wir sie nicht unterscheiden.

Trotzdem ist ein Unterschied da.

Ich behaupte: dieses "e" ist anders als dieses "e".

Um das erklären zu können, bitte ich Sie, sich diese beiden "e's" ausgedruckt vorzustellen.

e1 wird eher gedruckt als e2. Der Tintenauftrag bzw. die Tonerzusammensetzung des Lasers sind jeweils anders. Auch ist die Papierstruktur bei e1 und e2 jeweils anders. Das können wir zwar mit unseren Primärsinnen bewusst nicht wahrnehmen, aber ein Blick durch das Mikroskop würde uns die Unterscheidungen sehr deutlich zeigen.

Auch eine Dehnung in Raum und Zeit ermöglicht uns diese Unterschiede.

Raum: Der e-Typ auf Zeitungspapier sieht anders aus als auf handgeschöpftem Papier. Der e-Typ auf einem Träger vor 10 Jahren sieht anders aus als jetzt gerade gedruckt.

Ein Typus ist also eine Fiktion, die sich an unserer Wahrnehmung vorbeischleicht und verschiedenes als gleich wahrnehmbar macht. Das ist für den Alltag tauglich und sinnvoll, um uns aber der Wesen der Kalligrafie zu erschließen, ist es notwendig, diese Täuschung aufzudecken.

Im Unterschied zur Typografie ist es in der Kalligrafie möglich, die Unterschiede in den einzelnen Buchstaben mit unseren Primärsinnen zu erkennen. Sicher, bei guten Kalligrafien erfordert das oft schon einen geschulten Blick. Wobei diese Schulung des Blickes eben auch einen guten Kalligrafen ausmacht.

Es geht also in der Kalligrafie weniger darum, Typen herzustellen, sondern Unikate. Jede Form ein Unikat für sich, das es so nie mehr geben wird. Die Zeit und der Ort, wo und wie diese Form platziert wird, ist immer einmalig. Und mehr noch als die fertige Form ist die ausführende Bewegung das "kallos" in der Form. Und ist die Bewegung gelungen, so ist die fertige Form auch "sehenswert" und soll auch gesehen werden - denn leider ist es selten möglich, den ausführenden Akt zu beobachten.

Ähnlich, wie auch das Bild von einem Tanzpaare uns ansprechen kann, aus dem wir erahnen können, wo die Form herkommt und wo sie hingeht, so deuten Werke der bildenden Kunst immer wieder auf das "bilden", das formen, das gesalten, das entstehen hin.

Und der Reiz eines Schnappschusses beim Torschuss in einem Fussballspiel verblasst vor dem Erleben, dem Sehen, wie der runde Ball von einer scheinbar geraden Bewegung des Fußes hochgehoben wird, sich in einem Bogen über die Abwehrreihe hebt und zwischen Torlatte und dem pfeilartig hochschießenden Torwart quasi als i-punkt unterhalb der Blattgrenze und dem ihm zustrebendem Graphem sein Ziel findet.

 

Die Kalligrafie passt sich dem Raum und der Zeit an.

Flexibler als die Typografie kann sie die Räume zwischen den einzelnen Graphemen "ausbalancieren". Sie kann Verbindungen von Zeile zu Zeile schaffen und kann sich von einer typografisch vorgegebenen Zeilenstruktur entfernen.

Mehr noch als in der Typografie ist in der Kalligrafie die Entstehung der Form, der gestaltende Akt von Bedeutung: die Ausführung des Schwunges mit dem ganzen Körper, der dann manifest zur Form und dann weiter zum Graphem wird, ist der Kern der Kalligrafie. Das Fleisch darum ist die Lesbarkeit der Formen.

 

Alles Leben ist Bewegung.

 


 

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