Rundbrief Dezember 2001

Die gebrochenen Schriften

Mit dem Begriff die gebrochenen Schriften bezeichnet man die im deutschsprachigen Raum geschriebenen Schriften seit der Gotik.

Gebrochen an den gebrochenen Schriften ist der Buchstabenschaft.

 


bei den ersten drei Buchstabenformen steht das i ungebrochen auf der Grundlinie. Einmal spitz, einmal gerundet, einmal mit einer Serife auslaufend.

Bei den folgenden drei Buchstaben ist der Schaft gebrochen. Einmal nach rechts weg. In der Mitte dann wie eingerichtet und verdickt unten angesetzt und dann im letzten Beispiel nach links weggebrochen und scheinbar zentriert.

Diese Brüche entsprechen der Geisteshaltung der Gotik, in welcher das Individuum vor dem Kollektiv zurückstand. Keine Fun-Gesellschaft, in welcher der Genuss des einzelnen im Vordergrund stand, sondern die "Suche nach dem neuen Jerusalem", welche die großen Kathedralenbauten ermöglichten, war Zeitgeist.

Die strenge Form der gotischen Schriften (Ende 12. Jahrhundert bis Ende 13. Jahrhundert) wurde bald durch die Reformation aufgeweicht, welche auch in den Schriftformen der "Schwabacher" sichtbar ist. "Schwabacher" deshalb, weil sie erstmals in Schwabach bei Nürnberg auffiel. Diese weiche, runde, "bäuerliche" Form wurde wieder strenger in der Fraktur, der Schrift der Gegenreformation. "Fraktur" ist dabei auch der Oberbegriff für sämtliche gebrochenen Schriften:

Fraktur

•  Gotische Schrift

•  Schwabacher Schrift

•  Fraktur Schrift

Die Frakturschrift und deren handschriftlichen Weiterentwicklungen (Kurrent, Sütterlin, Offenbacher) wurden bis 1941 offiziell in Deutschland verwendet.

Die gotische Schrift ist kontemplativ, sammelt den Schreiber, eignet sich zur Meditation.

Die Strenge dieser Schrift bringt den Menschen zur Ruhe und vermittelt Grenzen und heilsame Orientierung in einer sich immer mehr in Auflösung erscheinenden Welt.

In diese Strenge schleichen sich beim Schreiben dann und wann Rundungen ein, wie sie sich auch beim Übergang von der Gotischen Schrift zur Schwabacher Schrift zur Fraktur Schrift beobachten lassen. In der Frakturschrift sind diese Rundungen - im Barock überschwenglich, im Klassizismus wieder reduzierter - gut zu beobachten. Bleibend ist in allen Fällen die Brechung der Buchstabenstämme.

In den Handschriften entwickeln sich analog zur Anglaise Spitzfedernschriften, Kurrentschrift genannt. Diese Schrift wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Sütterlin umbenannt und in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Rudolf Koch aufgewertet.

Diese 3 Variationen der Deutschen Schriften unterschieden sich wesentlich in ihrem Verhältnis von Ober- und Unterlänge zur Mittellänge.

Kurrentschrift: Ober- und Unterlänge zur Mittelänge 2 : 1

Sütterlinschrift: Ober- und Unterlänge zur Mittelänge 1 : 1

Offenbacherschrift: Ober- und Unterlänge zur Mittelänge 2 : 3

Offiziell verschwanden diese Schriften, die über ein halbes Jahrtausend den deutschsprachigen Bereich Mitteleuropas begleiteten, 1941.

Zu sehen sind diese Formen aber auch im Jahre 2001 noch überall: Überschriften der Frankfurter Allgemeine, Hausbeschriftungen, Computerschriften.

Die Frakturschriften sind "Wort-lese-Schriften". Sie werden als gesamtes Wort erfasst und gelesen. Die Lateinischenschriften dagegen werden als "Buchstaben-Schriften" bezeichnet: es wird Buchstabe für Buchstabe gelesen und daraus der Wortsinn gebildet.

Die Frakturschriften weisen eine größere Formenvielfalt als die lateinischen Schriften auf. Ein Beispiel dafür sind die differenzierten "s" Regeln.

In den Lateinischen Schriften steht das Wort "Wachstube" einmal für eine Wach-stube und ein andernmal für eine Wachs-tube. Der Sinn muss sich aus dem Kontext erschließen.

In den Frakturschriften ist es eindeutig:

Wachstube (mit langem "s") = Wach-stube

Wach s tube (mit kurzem-Schluß-"s") = Wachs-tube

und damit verabschiede ich mich für heute und wünsche allen Lesern und Leserinnen dieses Rundbriefes einen besinnlichen Advent

 

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze