Rundbrief April 2002

 

  • Von der Antiqua
  • Von den Zahlen
  • Vom Raum

 

Von der Antiqua

Die Großbuchstaben der Antiqua (Majuskeln, Versalien) wurden in den letzten beiden Rundbriefen ausführlich behandelt.
Nun werden die Kleinbuchstaben (Minuskeln) dargestellt.

Klassisch:


In einer Verfeinerung können diese Minuskeln mit verschiedenen Abschlüssen versehen werden (Serifen, Füßchen).
Einmal können die Kleinbuchstaben rund auslaufen, zum anderen können "Serifen" angesetzt werden. Bei den "Serifen" gilt das im März-Rundbrief zu den Großbuchstaben gesagte ebenfalls.
Mögliche Endungen von Groß- und Kleinbuchstaben:


Die klassische Antiqua kann auch "lockerer" geschrieben werden.

Bezeichnet wird sie dann als "humanistische Antiqua", "chancery" oder "cancellaresca" und sieht so aus:

 

Dazu werden die Großbuchstaben natürlich auch lockerer.

Eine Vielfalt der Möglichkeiten:


Von den Zahlen

Fragt ein Interessierter einen Kalligrafen: Kann man Kalligrafie nach Zahlen lernen?
Sagt der Kalligraf: Ja.
Und wie geht das? fragt der Interessierte?
Ganz einfach - sagt der Kalligraf - Sie zahlen, und ich lern's Ihnen.

Die Zahlen stammen aus einer anderen Welt.

Erste Zahlzeichen sind gereizte Zeichen für jeweils eine Einheit, gleiche Anzahl Tonkügelchen für gleiche Anzahl Tiere und ähnliches.

IIIIII = 6

ooooooo = 7

Als nächster Schritt erfolgte eine Gruppenbildung

IIII und ein Strich durch die Mitte = 5

IIII IIII und jeweils ein Strich durch die Mite = 10

Die Römer verfeinerten diese System weiter:

I = 1

IV = 4

V = 5

XI = 11

Von den Arabern übernahmen wir im ausgehenden Mittelalter unsere jetzt gewohnten Zahlen. Während des Umbruchs gab es viele Mischformen. Durch die Einführung der Null erlebte die Mathematik einen Sprung nach vorne.

Für die Kalligrafie bedeutet dies: die Entstehungsgeschichte der Zahlen ist eine andere als die der Buchstaben. Diese andersartige Formentwicklung ist bei der Gestaltung zu berücksichtigen. Eine Möglichkeit ist es, dass die Zahlen vorsichtig den jeweiligen Schriftcharaktern angepasst werden und eher im Hintergrund bleiben als sich in den Vordergrund drängen. Auch hier sind Ausnahmen gewünscht: Jubiläumsangaben und andere eigenständige Zahldarstellungen, die in den Vordergrund gehören (30. Geburtstag).

Zahlen kennen wir sowohl in einem Zweiliniensystem als auch mit Ober- und Unterlängen.

Schriftgeschichtlich kann man die Zahlen des Zweiliniensystems den Großbuchstaben zuordnen, die Zahlen mit Unter- und Überlängen den Kleinbuchstaben (also Schriften mit Unter- und Oberlängen).

 

Sonderzeichen

Punkt, Komma, Strich, Fragezeichen und andere Sonderzeichen sollen sich dem Hauptcharakter der Schrift unterordnen. Sie sind entsprechend diesem dezent zu setzen. Bei der Unzialis breiter, ausladender, bei der Fraktur verspielter, bei der Humanistischen Kursiven die Schräge berücksichtigend zierlicher.


Vom Raum

Wir Menschen sind stolz, über die Linie zur Fläche zum Raum gekommen zu sein. Science Fiction zeigt uns, dass wir noch stolzer sein könnten, wenn wir ausser zu den drei Raumgrößen - Länge, Breite, Höhe - auch noch in die vierte Dimension, die Zeit, vorstoßen könnten.

Tun wir das nicht? Wir bewegen uns in der Zeit. In unserer Wahrnehmung allerdings nur in einer Richtung.

Mit dem Raum haben wir andere Möglichkeiten.

Zur Definition:

die drei Raumdimensionen

1. Dimension: Linie

2. Dimension: Fläche (Länge und Breite)

3. Dimension: Raum (Länge, Breite, Höhe)

die Zeitdimension

4. Dimension: Zeit

So stolz wir sein können, die ersten drei Dimensionen zu beherrschen, uns in ihnen bewegen zu können, zu Fuss, mit dem Flugzeug oder mit dem Zug, stellen wir doch mal die Frage:
stehen wir mit unserer dreidimensionalen Wahrnehmung über einer zweidimensionalen - oder sind wir vielleicht sogar begrenzt auf eine dreidimensionale Wahrnehmung?

Natürlich können wir eine "zweidimensionale" Zeichnung anfertigen:

Aber ist das wirklich eine zweidimensionale Zeichnung - oder nur eine Fiktion?

Diese Zeichnung besteht auf vier Linien, die im Ausdruck der Tintenstrahler zu Papier gebracht hat: jede "Linie" für sich genommen beansprucht Raum - Länge, Höhe, Breite. Hebt sich also vom Papier ab, auch wenn unsere Finger meist zu unsensibel sind, dass beim rüberstreichen über das Papier zu spüren.

Und auch das Papier hat eine Höhe, die wir spüren, wenn wir uns an der Kante (Höhe des Papiers) schneiden.

Wir bewegen uns also in einer dreidimensionalen Welt und sind mit unseren Alltagsäusserungen auf sie fixiert.

Darum reizen "begreifbare", haptisch wahrnehmbare räumliche Darstellungen mehr als vordergründig zweidimensionale.

In der Kalligrafie können wir den Reiz der Formen dazu auf zwei Arten weiter verdeutlichen:

Einmal durch eine bildnerisch angedeutet optische Höhe:

 

Linie:
Beispiel

Fläche:
Beispiel

Raum:
Beispiel

Zum anderen durch Techniken, welche den Raum mehr verdeutlichen als ein nicht "begreifbarer" Tintenfilm:

  • Prägetechniken,
  • kalligrafische Formen in Wachssiegeln,
  • Embossing
  • Schreiben mit Flüssigwachs auf Wachskerzen
  • kräftig Ölfarbe, Plakafarbe, Dispersionsfarbe auf den Untergrund auftragen
  • und so fort.

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze