Die Kalligrafin und das Goldenes Buch
Es eilt.
Der junge Bürgermeister hat gerade verdiente Bürgerinnen sich ins Goldene Buch der Gemeinde eintragen lassen.
Diesmal bevor, wie sonst üblich, die Kalligrafin den würdigen Rahmen dazu gestaltet hatte.
Das sollte jetzt baldmöglichst nachgeholt werden.
Der Bürgermeister bringt deshalb der Kalligrafin eiligst das Buch: Das, was sie eintragen solle, stehe in der E-Mail sagt er mit einem „Wir können ja telefonieren, wenn etwas unklar ist", und fährt wieder ins Rathaus zurück
Die Kalligrafin freut sich, das Buch wieder einmal bei sich zu wissen, legt es behutsam auf den Schreibtisch und schlägt es auf - und ist entsetzt.
Um keinen Ministerpräsidenten handelt es sich, um keine Hundertjahrfeier eines ortsansässigen Vereines und keine Dankesfeier für soziales Engagement.
Sondern um …
Das, was sie sieht, schockiert sie so, dass sie das Buch sofort wieder zuschlägt, es einpackt und sich entrüstet auf den Weg ins Rathaus macht.
Dort stürmt sie wie eine Furie in das Zimmer des Bürgermeisters, der verwundert hinter seinem PC hervorblickt und überfällt ihn mit den Worten: „Was soll das?“ indem sie ihm das Buch auf den Tisch knallt und zur aktuellen Seite blättert.
Der Bürgermeister weiß nicht wie ihm geschieht.
Er ist noch jung, neu im Amt und schätzt diese reife Frau, die ihm schon viel über die Gemeinde erzählt hat.
Vor ihm liegt nun aufgeschlagen die von den beiden jungen Besucherinnen vor zwei Stunden am Vormittag spontan gestaltete Seite.
Eine Seite, welche die beiden Kuchenprinzessinnen mit ihrer bunten Werbepostkarte verschönern durften; aus Freude darüber, dass sie einen Backwettbewerb der örtlichen Zeitung gewonnen hatten. Dieses eingeklebte Stück Pappe war dann auch noch zusätzlich verziert mit orangem Filzstiftgekringel und lieblichen Herzchen.
Der Bürgermeister sieht sich diese Seite an, ein Lächeln ist auf seinem Gesicht in Erinnerung an die beiden lieben Mädels. So gestimmt meint er zur Kalligrafin gewandt: „Ist doch schön.“
Die Augen der Künstlerin weiten sich; wäre sie eine Amazone, müsste der Bürgermeister um sein Leben fürchten.
So fährt sie ihn nur an: „Ja, für ein Poesiealbum.“
Dann erklärt sie ihm ausführlich wie einem Schulbuben von der Würde und der Bedeutung der Goldenen Bücher für die Städte und Gemeinden und wird dabei ruhiger.
Nach einer Viertelstunde Zurechtweisung erkennt der Bürgermeister seinen Fauxpas.
Trotzdem sitzt er unschlüssig da, nicht wissend, was jetzt zu tun ist.
Die Kalligrafin wird aktiv.
Sie zieht das mitgebrachte Lineal und die Rasierklinge heraus, legt beide Werkzeuge auf den Tisch, deutet auf die Seite mit dem despektierlichen Eintrag und sagt bestimmt: „Rausschneiden, sonst kannst Du dein Goldenes Buch in Zukunft selber führen!“
Ohne Widerrede tut er, wie ihm geheißen.
Die Kalligrafin ist zufrieden. Die Würde des Buches wieder hergestellt. Besänftigt macht sie dann den Vorschlag, für Einträge von Kuchenprinzessinnen und ähnlichen einfach ein Gästebuch zu führen, in welches dann ja auch die herausgetrennte Seite eingeklebt werden könne.