Rundbrief Oktober 2001

Transpiration - Inspiration - Transformtion

Die grundlegenden Werte der ostasiatischen Kalligrafie können in vier Worten zusammengefasst werden: Achtsamkeit, Heilen, Atem und Durchbruch.

Achtsamkeit

Für mich ist die Essenz des kreativen Prozesses ... die Achtsamkeit.

Körper und Geist müssen ruhig und in aufrechter Position sein... einen medi-tativen Zustand von Körper und Geist zu kultivieren.

Der traditionelle chinesische Weg... (den Stift) sehr langsam zu führen, ähnlich den Bewegungen im TaiChiChuan, ist fordernd. Warum nimmt man sich so viel Zeit, ein einziges Zeichen (eine Form) zu schreiben, wenn es schneller doch genauso geht.

Welche Schreiboberflächen sind zunächst während dieser langsamen Übung Widerpart, Frustration, oder manchmal sogar Ärgernis?

Doch sie wird allmählich zur Würdigung, in langsamen Übungen zu wachsen. ...

Die Fähigkeit, die eigene innere Geschwindigkeit zu reduzieren, wo und wann man möchte, ist eines der wetvollsten Dinge, die ... (die Kalligrafie) lehren kann.

 

Heilen

Die ständige Wiederholung scheint sinnlos für Studenten in der westlichen Welt, wo Einzigartigkeit und Neuigkeit die höchsten Werte sind. Dies geht bis hin zu dem Punkt, dass erwartet wird, dass alles und jeder verschieden und aussergewöhnlich sein soll. Mir erscheint dies als unerreichbares Ziel, das sogar Druck und Beklemmung hervorrufen kann. ... In der heutigen Zeit, die mit Angst angefüllt ist, kann die Kreativität ... eine Metapher sein für eine andere Art, sein Leben zu gestalten. Ruhig zu sein, entspannt, in voller Präsenz ... ist es Selbstheilung.

 

Freies Arbeiten in der Kalligrafie benötigt Kenntnis.

Kenntnis von der Form.

Diese Kenntnis kann aus den Graphemen gewonnen werden: durch das Studium der Formen, die in den verschiedenen Alphabeten der verschiedenen Zeiten enthalten sind.

Der andere Weg ist auch möglich.

Formen in uns und um uns kennenlernen.

Urformen nachspüren.

Um diese Formen dann wieder auch in den Graphemen zu entdecken und diese Formen für unsere ganz persönliche Kalligrafie nutzbar zu machen.

Atem

Die Kultivierung des Qi, Atem, Geist und Energie, ist die Grundlage für alle ostasiatischen Prozesse. Darum wird auch viel Wert gelegt auf eine gute Körperhaltung. (Kalligrafie) ... ist nichts anderes als eine bewusste Versammlung von Körper, Geist, Herz, Denken und Energie.

Dieser Prozess schliesst alle Teile von einem selbst ein - ein Ganzes sein. Wenn man eine Linie zieht und in diesem Moment voll präsent ist, ist man verbunden - mit sich selbst, mit der Umge-bung, der Tradition und der Zukunft.

 

FORMEN DES LEBENS

Schrift f o r m

Sprach f o r m

Blatt f o r m

Kuchen f o r m

Kunst f o r m

Gott f o r m te Adam aus Lehm

Mich hat nicht das Leben schreiben, sondern das Schreiben leben gelehrt.

Die Form ermöglicht den Inhalt, nicht umgekehrt.

Heimito von Doderer

1896 - 1966

...

 

Europäische Kalligrafie wollen wir immer auch lesen.

Asiatische und islamische Kalligrafie betrachten wir "nur" Ihrer Formschönheit wegen (und vielleicht auch etwas wegen des gemeimnisvollen unlesbaren Inhaltes).

Trotzdem: es gilt zu lernen, auch die Formen Europäischer Kalligrafie in Ihrer Formschönheit ohne den Inhalt zu betrachten. Ein Hilfsmittel dazu ist, die Formen zu drehen und "neu" zu sehen.

 

 

Diesen Inhalt - Form Konflikt gibt es auch in der Musik:

Ein Lied, nur Instrumental vorgetragen wirkt nur durch die Musik.

Ein Lied, mit Text gesungen, tritt mit dem Inhalt des Textes in Konkurrenz zur Musik.

 

In der Kalligrafie ist diese Konkurrenz zu beachten und in ein gegenseitiges Unterstützen überzuführen.

 

DAS "KALLOS" IN DEN FORMEN

Kalligrafie

gemeinhin: Kallos = schön - Graphein = schreiben

genauer betrachtet drückt Kallos weit mehr als schön aus:

wertvoll, gut, zufrieden, glücklich, echt

was ist bei der Kalligrafie nun Kallos?

der teure Füller,

das edle Büttenpapier

oder die aufwendig hergestellte Eisengallustinte?

die Form, die wir ausdrücken

Auch ausserhalb der Kalligrafie kann alles kallos sein:

die Bewegung beim Tanz

das Wiegen der Bäume im Wind

ein geglückter Lebensabschnitt

 

Durchbruch

Es ist möglich, verschiedene Bereiche menschlicher Aktivität als Prozesse zu sehen, einen Durchbruch zu erreichen. Wissenschaft, Medizin, Erziehung, Geschäftsleben oder Politik zielen meist dirket auf Durchbruch hin. Ein Problem jedoch ist, dass in diesen Bereichen meist intellektuelles Bestreben gefordert ist. ini anderes Problem liegt darin, dass zu viel Wert auf das Ergebnis anstatt auf den Prozess gelegt wird.

...

Wenn ein Wissenschaftler sagt: "Ich komme nicht mehr weiter. Ich kann keinen Durchbruch erreichen - helft mir.", dann können Sie ihn fragen: "Stehen Sie aufrecht? Haben Sie tief durchgeatmet? Lächeln Sie? Sind Sie verbunden? Geben Sie acht auf jedes Detail? Sind Sie frei?"

 

Quelle:

arsscribendi - Zeitschrift der Internationalen Gesellschaft zur Förderung der Literatur- und Schriftkunst e.V. Nr. 2/2001

Auszüge aus dem Aufsatz: East meets West von Kazuaki Tanahashi in der Übersetzung von Katharina Piper

 

Von den Urformen

Urformen sind Ausdruck des lebendigen: alles Lebendige ist gestalthaft (= morphologisch), das heißt, es untersteht überindividuellen Formgesetzen, welche z.B. die Artverwandschaft erzeugen. Das einzelne Individuum (eines Menschen, aber auch eines Tieres oder einer Pflanze) stellt je eine Variante der artgemäßen Gestalt dar (Bein eines Menschen - Stamm eines Baumes - Körper einer Schlangen = gleiche Urform).

 

Urformen sind auch in der uns unbelebt ("tot") erscheinenden Welt (z.B. der Gesteine) aufzufinden; auch in der Mineralienwelt sind Bewegungs- und Gestaltungsgesetze wirksam, die von "vor"-bildhafter Art sind.

Urformen bestimmen auch die Morphologie (Gestalt) des Menschen in Körper, Bewegung und Ausdruck (Piruette der Eistänzerin, Wirbeln eines Hurrikans, Rotation des Strudels).

 

Urformen entstehen nicht über intellektuelle Abstraktion und Vereinfachung (wie z.B. die Verkehrszeichen). Sie sind die Einfachheit und Wesentlichkeit im Sinne des Elementaren.

 

Urformen enthalten und folgen verschiedenen Prinzipien:

•  Das Prinzip der Wiederholung, d.h. Grundformen sind stets wiederholbar (z.B. als Choreographie des Tanzes, als Ornament oder in Schriftzeichen). Diese Wiederholungen (z.B. von Blattformen einer Pflanze) sind einander zwar sehr ähnlich, nicht aber identisch.

•  Das Prinzip der Transposition. Es handelt sich um Gestalten, die in zahlreichen Variationen (der Größe, des Rhythmus, der Akzentuierung etc.) erhalten bleiben.

•  Das Prinzip der Symmetrie und der Spiegelung (Schmetterling, Unzial-M, aufgeschlagenes Buch mit linker und rechter Seite)

•  Das Prinzip der Polarität und der Umkehrbarkeit, z.B. von innen und aussen, oben und unten (in der Kalligrafie in der Gotischen Schrift gut beobachtbar: n = u usw).

•  Das Prinzip der Unvollkommenheit. Urformen sind keine geometrisch- mathematisch exakten Gebilde, sondern dynamisch lebendige Gestalten; sie sind gewissermaßen stets in Bewegung.

•  Das Prinzip der Mitte und der Konstante (Radbewegung, Drehbewegung des Tänzers um die eigenen Achse).

Urformen verbinden sich mit ähnlichen Erlebnisgestalten (z.B. die des Kreises mit dem Erlebnis des Umfangen- und Geborgenseins. So findet die Darstellung des Umfangens und des Geborgenseins im Kreis ihre Symbolisation.

Urformen stehen in Schwingungsfeldern. Sie sind aus Bewegung entstanden und sind deren Ausdruck. Diese bewegungsmäßige Herkunft teilt sich uns über die unterschiedlichsten "Schwingungen" mit, die von den Formen (Kreis, Dreieck, Quadrat etc.) ausgehen. Die Bewegungsanreize, die sie auslösen, können stets wieder malend und zeichnend zur Ursprungsbewegung zurückführen.


Offene und geschlossene Formen

Urformen erscheinen in offenen und geschlossener Form sowie in Verbindungen davon:

offene Formen: w r t z u i ...

geschlossene Formen: o D B ...

Verbindungen: e b P ...

In offenen Formen (wie z. B. denen der Spirale oder der Wellenlinien) ist die Bewegung noch deutlich erkennbar und nachvollziehbar.

Offene Formen sind richtungsweisend, Sie können sich in Größe und räumlicher Ausdehnung unterschiedlich wiederholen.

Geschlossene Formen sind in sich zurücklaufende, kompakte Gestalten. Sie haben keinen Ausgangspunkt und Endpunkt. Sobald ein Kind einen Strich zum Ausgangspunkt zurückführt, kommt darin ein beabsichtigter Vorgang zum Ausdruck. Es setzt voraus, dass ein Kind das Raumfeld überblickt und seine Arm- und Fingerbewegung koordinieren und steuern kann. Optisch treten solche Formen in den Vordergrund. Sie erhalten oft einen Bedeutungsgehalt, mehr, als dies bei einer Linie der Fall ist.

 

Textauszug aus:
Bewegen und Malen
Zusammenhänge- Psychomotorik- Urformen- Körper- und Raumerfahrung
Ergänzt mit eigenen Bemerkungen

 

Beschreibung der Wieskirche:

... hier offenbart sich die Kunstfertigkeit des Rokoko, die es vermag, Architektur nahezu schwerelos werden zu lassen, Malerei in Plastik, Plastik in Malerei zu verwandeln, die Meta­morphose alles Körperlichen in der Baukunst zu verwirklichen, in höchster Vollendung. Eine äusserst fein abgestimmte Farbgebung und ein unglaublicher Reichtum verfeinerter Formen verwirren den Betrachter im Augenblick, bis er erkennt, dass alles auf im Grunde einfachen und vollkommen harmonischen Formen beruht.

Knaurs Kunstführer

 

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze